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Renate Konrad

Die Schlucht

Trennung ist wie eine Schlucht an dessen Rand man steht und nicht weiß wie man auf die andere Seite gelangt. Man sieht hinab in die endlose Tiefe und spürt den emporsteigenden Wind auf seinem Gesicht. Er ist kalt und doch sanft. Man merkt ihn erst, wenn man am Rand steht und doch breitet er sich aus und ist überall spürbar. Er legt sich um einen, hüllt einen ein und lässt einen leicht frösteln in der Kargheit des Winters und einen erleichtert ausatmen in der Hitze des Sommers. Er ist Teil der Schlucht und der umgebenden Landschaft. Seine Absicht ist keine Böse und keine Gute, er ist da und zeugt von der Tiefe der Schlucht, von dem Riss in der Landschaft und dem Leben, das sich an beiden Seiten entlang der Böschung angesiedelt hat.


Ein Leben der Extreme, der vollkommenen Anpassung, der uneingeschränkten Annahme der Umstände. Ein Leben, das die Fülle nicht kennt, dafür die Freude und Dankbarkeit über jeden einzelnen Sonnenstrahl und Regentropfen, die es berühren und damit seine Existenz bestätigen. Kraft und Stärke zeichnen das Leben an der Böschung aus, sowie eine ungeahnte Komplexität, Kreativität und Tiefe, versteckt hinter einer scheinbaren Einfachheit. Der Blick in die Ferne ist ein Blick auf die andere Seite. Die Schönheit des Gegenübers berührt das Herz der Lebewesen auf der einen Seite, welche über das Wunder und die Schönheit des Lebens, das sie bezeugen jubilieren. Hie und da bringt der Wind auf seinen Schwingen ein Samenkorn von der anderen Seite herüber. Es wird bewundert, geehrt und geschätzt. Es bekommt den größten Platz, den sonnigsten und den sichersten zugewiesen. Seine Wünsche werden ihm von seinen Lippen abgelesen und erfüllt. So wächst er heran und breitet sich aus. Schon bald ist er der Größte, der der am schönsten blüht und alle Augen auf sich zieht, der der am meisten von der Sonne und dem Regen abbekommt. Und doch die Sehnsucht nach der anderen Seite, seiner ursprünglichen Heimat lässt ihn nicht los. Dankbarkeit und Freude erreichen ihn nicht, die Sehnsucht nach dem Verlorengegangenem verzehrt ihn und drückt schwer auf seinen Schultern, so stürzt er in die Tiefe, dessen Dunkelheit ihn einhüllt und aufnimmt.


Geschenke wie der Samen sind Kostbarkeiten, denen man alles gibt. Sie bestätigen einen in seiner Existenz. Verliert man sie bricht man entzwei. Ein kleiner Sonnenstrahl, der durch eine winzige Ritze in der Wolke, einen, für einen Augenblick trifft, hat die Macht die Lebensgeister in einem am Leben zu erhalten und das Abstürzen zu verhindern.


Doch wie wäre es könnte man die Schlucht überwinden und die Schönheit der anderen Seite nicht nur bewundern, sondern auch berühren, mit ihr sein und mit ihr im Regen tanzen? Die Sehnsucht öffnet die Arme, die sich ausbreiten, hinüberzugreifen und sich langmachen um die andere Seite zu berühren. Doch sie sind zu kurz und die Schlucht zu breit. Die andere Seite müsste dasselbe tun, dann würde eine Brücke entstehen, die die beiden Seiten der Schlucht verbindet. Wo ist auf der anderen Seite jemand dessen Sehnsucht und Neugierde ihn ebenso treibt sich auszustecken und die andere Seite zu berühren? Waghalsige und mutige Pioniere strecken sich nach der anderen Seite aus, verbinden und verweben sich miteinander und verhaken sich. Auf ihren Schultern bildet sich eine neue Erde, ein Fundament auf dem sich neues Leben ansiedelt, das das Potenzial hat über den Rand der Schlucht zu sehen und erstmalig den Horizont zu erblicken.



Wie lange wird die Verbundenheit bestehen bleiben und für die Schlucht eine Brücke sein? Hält sie einem aus, wenn man auf sie tritt? Wird sie jemals zu einem sicheren Ort, in dessen Mitte man verweilen kann und die unendliche Weite des Himmels und der Landschaft zu beiden Seiten, sowie die Tiefe der Schlucht bewundern kann und in allem das Wunder des Lebens erkennt?

Das Leben hat die Macht Verbundenheit herzustellen und die Verbundenheit hat die Macht den Riss in der Landschaft, die Schlucht zu verschließen. Urvertrauen verstärkt und versiegelt die Verbindung der Pioniere. Sie ist die unsichtbare Kraft der Sicherheit.


Darf das Leben in uns und in unserem Leben seine Macht entfalten?

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